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Ich ärgere mich, wenn ich meinen Selbstwert am Funktionieren im Kapitalismus messe

Martha Dudzinskis: Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich meinen Selbstwert wieder daran festmache, ob ich im kapitalistischen Sinne funktioniere

Martha Dudzinskis Vorträge werden als „erfrischend direkt“ und „herrlich unbequem“ beschrieben. Das gilt auch für ihr Buch „Konsequent 60 Prozent“. Als Produktivitätsratgeber getarnt, ist es eine Abrechnung mit den bösen Zwillingen Patriarchat und Kapitalismus. Die geschäftsführende Gesellschafterin der SWANS-Initiative hat einen einzigartigen Blick auf Leistung und Produktivität, denn sie ist an Long Covid erkrankt. Sie kann nur wenige Stunden am Tag arbeiten, braucht viele Pausen und musste lernen, in weniger Zeit mehr zu schaffen. Wie sich ihre Haltung zur Arbeit verändert hat und welche Mittel ihr dabei helfen, den Posten als Geschäftsführerin und die Pressearbeit für ihr Buch „Konsequent 60 Prozent“ zu stemmen, erzählt sie im Interview.

„Ich arbeite daran, mich für die kleinen Dinge zu feiern, die nichts mit Erwerbstätigkeit zu tun haben“

herCAREER: Martha, was denkst du über den Begriff „Leistungsträger:in“?

Martha Dudzinski: Urghs. Woran wird Leistung eigentlich gemessen? Und welche Art von Leistung wird geschätzt, gewürdigt, anerkannt und bezahlt? Ich bin auch schon als Leistungsträgerin bezeichnet worden. Und klar, das fühlt sich gut an. Aber mal ehrlich: In einer Welt, in der Männer statistisch gesehen mehr reden, sich schmücken, aber vielleicht wenig Arbeit und Ergebnisse dahinterstecken – in den wenigsten Berufen gibt es verlässliche Variablen, an denen man objektiv festmachen kann, was individuelle Leistung eigentlich ist. Denn die Leistung der vielen meist weiblichen „Fleißbienchen“ wird nicht gewürdigt, zum Beispiel: Protokolle schreiben, Geschenke und Geburtstagskarten organisieren, die Kaffeeküche aufräumen – weil sie im Stillen geschieht, oft unbemerkt und unbezahlt.

herCAREER: Selbstoptimierung bleibt ein Trend, wir sollen immer mehr aus Kopf und Körper herausholen. Als ein Mensch, dessen Körper das nicht mehr hergibt: Was hältst du von den Tipps der Supertypen, die nur 4 Stunden pro Woche arbeiten oder ihr Leben umkrempeln, indem sie morgens um 5 Uhr aufstehen?

Diese Männer – denn es sind überwiegend männliche Autoren – ignorieren die unterschiedlichen Lebensrealitäten ihrer Leser:innen. Ihre Erfahrungen sind nicht allgemeingültig. Brian, Tim und wie sie alle heißen, ist es egal, wenn andere sich kaputtarbeiten, solange sie selbst weniger arbeiten müssen.

herCAREER: Sie delegieren also einen Großteil ihrer Arbeit?

Ganz genau. Und mit dem Thema „Delegieren“ bringst du mich auf die Palme. Diese Tims und Marks haben ihr Leben nur deshalb so gut organisiert, weil sie outsourcen, weil ihnen meistens Frauen den Rücken freihalten, privat und beruflich. Auch Frauen machen ab einer bestimmten beruflichen oder gesellschaftlichen Position Karriere auf dem Rücken anderer: Sie lassen ihre Arbeit von anderen Frauen und Menschen aus dem globalen Süden erledigen, seien es Reinigungs- oder Pflegekräfte. Nur so können sie ihr Pensum bewältigen.

herCAREER: Viele werden jetzt sagen: „Aber ich bezahle diese Menschen doch für ihre Dienstleistung!“

Ja, aber trotzdem machen wir durch den enormen Zeit- und Leistungsdruck unsere Probleme zu den Problemen anderer, schlecht oder auch gar nicht bezahlter Menschen, anstatt sie zu lösen. Was mich an diesen Optimierungs- und Produktivitätsratgebern stört, ist die mangelnde Reflexionsfähigkeit. Denn während sich diese Autoren für ihre Cleverness feiern, sind sie in Wirklichkeit zutiefst ignorant und selbstgefällig, weil ihre Produktivität in einem Machtgefälle stattfindet, von dem sie selbst profitieren.

herCAREER: Der Begriff „delegieren“ nervt dich. Was hältst du vom Konzept des „Funktionierens“, gerade jetzt, wo dir dein Körper klare Grenzen setzt?

Ich ärgere mich jedes Mal über mich selbst, wenn ich meinen Selbstwert wieder daran festmache, ob ich im kapitalistischen Sinne funktioniere. Was habe ich heute erreicht, welchen Mehrwert habe ich geschaffen? Was soll das? Wir sind doch keine Roboter. Ich arbeite daran, mich für die kleinen Dinge zu feiern, die nichts mit Erwerbstätigkeit zu tun haben: Ich habe Brokkoli gegessen. Meinen Ofen gereinigt. Ich habe Zahnseide benutzt.

herCAREER: Du zitierst im Buch die Autorin Nadja Shehadeh, die sagt, dass wir in einer neoliberalen Gesellschaft nie genug tun können und dass deshalb das Ausruhen zu einem revolutionären Akt wird …

Es ist sogar ein Akt des Überlebens. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der wir mehrmals am Tag unser Handy aufladen, bevor es schlappmacht, sollten wir uns selbst Regenerationsphasen erlauben.

herCAREER: Sogar für Entspannung und Pausen gibt es Ratgeber, damit man in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Erholung findet. Was funktioniert für dich?

In der Badewanne kann ich nicht entspannen, das ist nicht mein Ding. Joggen auch nicht. Für mich funktionieren Comedy-Serien – vor allem solche, die ich schon 1000-mal gesehen habe und auswendig kenne. Da muss ich mich nicht konzentrieren und der Stress und die Anspannung fallen von mir ab. Die Zeit, herauszufinden, was wirkt, muss man sich selbst nehmen, da helfen auch keine Tipps von Brian und Tim. Überhaupt bin ich der Meinung, dass wir uns keine Ratschläge von Leuten geben lassen sollten, die unsere verschiedenen Lebensbedingungen und -realitäten ausblenden.

herCAREER: „New Work“ verlangt nach Freiheit und Flexibilität, die eigene Arbeit selbst gestalten zu können. Dafür müssen wir, wie du sagst, Selbstverantwortung übernehmen und Selbstmanagement üben. Nachdem du im Buch einige Organisations- und Priorisierungstaktiken kritisch hinterfragt hast, hast du eine ganz eigene Art der Priorisierung entwickelt. Wie hast du das gemacht?

Ich habe mich nach meiner Erkrankung und auch während des Schreibprozesses intensiv beobachtet und gefragt: Was sind eigentlich meine Prioritäten und wie setze ich sie? Ich habe festgestellt, dass ich mich nicht nach einem System oder einer Matrix richte, sondern umgekehrt: Ich richte mich nach meinem Bauchgefühl. Wir drücken uns vor Aufgaben, weil wir auf irgendeiner unterbewussten oder unbewussten Ebene merken: „Das schaffe ich jetzt nicht, dafür fehlt mir die (emotionale) Kraft“. Umgekehrt motivieren uns Tätigkeiten, die Spaß machen. So bin ich auf die Kategorien „schnell und einfach“ und „gerne und mit Freude“ gekommen. Die nehme ich zuerst in Angriff, weil sie meine Kraftreserven schonen und mir im besten Fall noch Rückenwind geben. Den brauche ich für die Aufgaben in den Kategorien „Kraft und Konzentration“ und „Bauchschmerzen“.

herCAREER: Die letzten beiden Kategorien verschiebst du bei Bedarf auf später, auf morgen, auf übermorgen. Das kannst du, weil du deine eigene Chefin bist. Was rätst du Menschen, die beruflich weniger Freiheiten haben? Wie können sie von ihrem Bauchgefühl profitieren?

Das Wichtigste ist, dass wir netter zu uns selbst sein müssen. Lerne, weniger mit deiner Zeit, sondern mehr mit deiner Energie umzugehen. Vielleicht machst du jetzt eine Pause, weil du weißt, später kommt besonders anstrengende Arbeit auf dich zu. Oder du merkst: Heute schaffst du das auf keinen Fall. Verschiebe es – mit gutem Gewissen! – und vertraue darauf, dass du später die Energie findest, die dir heute fehlt. Ich weiß aus eigener Erfahrung: Je mehr ich mir Vorwürfe mache, wenn ich eine Pause mache oder Momente der Schwäche habe, desto mehr Kraft raube ich mir und desto länger dauert es, bis ich wieder am Start bin.

herCAREER: Ist das der zentrale Appell deines Buches: Sei netter zu dir selbst?

Ja.

herCAREER: Und dein Appell an alle, die bisher Selbsthilfebücher gelesen haben?

Viel Spaß mit dem Kapitel, in dem ich mich über diese Bücher lustig mache und ihren unreflektierten patriarchalen, kapitalistischen Ansatz entlarve.

Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

 

Bild: Martha Dudzinski. Geschäftsführende Gesellschafterin SWANS Initiative gGmbH Fotograf/Bildcredits:© Mina Esfandiari

 

Quelle: messe.rocks GmbH

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