Interview mit Thomas Keup, gebürtiger “Ossi” und gelernter “Wessi”
Heute jährt sich die Einheit Deutschlands zum 25. Mal. Der Mauerfall und die Wiedervereinigung sind einige der Grundvoraussetzungen für Berlins Tech-Startup-Szene rund um Torstraße, Rosenthaler Platz und Brunnenstraße. Wo Stasi-Agenten Ost-Berliner Einwohner bespitzelten, tummeln sich heute Hipster, Hipsterpreneure und echte Jungunternehmer.
Mit Christine Arnoldt und Thomas Keup führen zwei “Ossis” aus Thüringen und Mecklenburg unser Magazin. In den vergangenen Tagen hat Christine in “SHE” ihre ganz persönlichen Gedanken zur eigenen Geschichte aufgeschrieben. In diesem Interview entlockt sie Thomas persönliche Einsichten eines “Ossis”, der zu einem “Wessi” wurde.
Zum Auftakt eine ganz persönliche Frage: Fühlst Du Dich als “Ossi” oder eher als “Wessi”?
Heute fühle ich mich als “Wessi” – und als Mecklenburger. Bei aller “West-Sozialisation” durch meine Jugend im Westteil Berlins besitze ich aber auch das Wissen und das Verständnis für das “Wir-Gefühl” im Osten Deutschlands. Spätestens, wenn Geschäftemacher mal wieder Kunden, Partner oder Mitarbeiter über die Klinge springen lässt weiß ich, wie Vertreter der “Ich-Gesellschaft” aus dem “Westen” Menschen benutzen, um Profit zu maximieren.
Wie kommt ein gebürtiger Mecklenburger dazu, seine Kindheit im Westteil Berlins verlebt zu haben?
Meine Mutter hat 1975 zum zweiten Mal einen Ausreiseantrag gestellt. Daraufhin hat das DDR-Regime aus einer erfolgreichen und beliebten Grundschullehrerin eine arbeitslose Sozialhilfempfängerin gemacht. Die DDR hat Menschen durch Psychoterror versucht, zu brechen. Nach 1,5 Jahren auf gepackten Koffern durften wir aus Stralsund an der Ostsee ausreisen, wurden aus der “Staatsbürgerschaft der DDR” entlassen.
Am Vortag unserer Ausreise bekam ich einen Brief für meine Klassenlehrerin mit. Diese lass ihn vor versammelter Klasse laut vor – und fast 30 Mitschüler lachten. Am Abend feierten wir noch zusammen Pioniergeburtstag. Als ich gehen musste, wussten meine Mitschüler nicht, was sie sagen sollten. Das konnte ich damals – im Dezember 1976 mit 10 Jahren – nicht verstehen, und es hat mich lange beschäftigt.
Gibt es einen Schlüsselmoment, der Dir über die Zeit in der DDR in Erinnerung geblieben ist?
Es gibt für mich zwei Schlüsselmomente. Der Eine ist das Summen der Automatiktür in der damaligen Grenzübergangsstelle “Tränenpalast” am Bahnhof Friedrichstraße. Ich stand in dem engen Gang und der Grenzer hinter der Glasscheibe des Abfertigungsschalters bestimmte über mein Leben. Er drückte den Summer und ich durfte passieren und zu den S-Bahnsteigen Richtung West-Berlin gehen.
Das Summen der Tür ist für mich auch heute einer der Gänsehautmomente in der Gedenkstätte Tränenpalast, den jeder am eigenen Leib erleben sollte, um die Machtlosigkeit von Teilung zu verstehen. Wer mir gegenüber mit Trennung, Ablehnung oder Schweigen reagiert, um einen taktischen Vorteil zu erzielen, weckt den 10-jährigen, ohnmächtigen Jungen in mir. Und der kann dann sehr unangenehm werden …
Der zweite Moment ist die unmenschliche Behandlung durch die Grenzkontrolleure des DDR-Geheimdienstes „Stasi“ im Tränenpalast. Ich musste mit ansehen, wie sie meine Mutter einer Leibesvisitation unterzogen – bis zur Retkaluntersuchung. Ich schaute in das gepeinigte Gesicht meiner Mutter. Danach muss mir niemand mehr etwas erzählen von “Es war nicht alles schlecht in der DDR”. Danke, nicht nötig …
Wo warst Du beim Mauerfall und wie hast Du persönlich die Wiedervereinigung erlebt?
Am Abend des Mauerfalls haben wir uns als Junge Union spontan in unserem Büro im heutige “Bikini Berlin” getroffen. Wir wollten den Ost-Berlinern vor allem Informationen an die Hand geben und haben mit einem Kleinlaster Zeitungen von Verlagen abgeholt und vor dem Zoo-Palast verteilt. Wir haben über Tage rund um die Uhr Infostände betreut und tausende Ost-Berliner begrüßt.
Ein Jahr später unterstützte ich für das Konrad-Adenauer-Haus den CDU-Wahlkampf in meiner Heimat Mecklenburg. Ich werde nie vergessen, wie ich als 23-Jähriger in Anklam einen Kreisgeschäftsführer der DDR-CDU einen Tag vor seiner Pensionierung auf den Marktplatz stellen musste, um Luftballons aufzupusten. Da prallten Welten aufeinander – nicht nur zwischen Jung-Unionisten aus dem “Westen” und CDU-”Blockflöten”.
Gibt es für Dich einen Moment in jüngerer Vergangenheit, der für Dich Freiheit und Einheit bedeutet?
Der schönste Moment war die Lichtmauer im letzten Jahr. Dank Facebook hatte ich die Chance, zusammen mit Freunden unweit des Brandenburger Tors einen Ballon steigen zu lassen. Das war ein besonderer Moment für mich. Es war zugleich ein Abschluss mit der Vergangenheit. Das Eva-Maria von Facebook in Berlin dies möglich gemacht hat, ist fantastisch. Nicht zuletzt, weil ich über das Netzwerk bereits meine Halbschwester wiedergefunden habe.
Wie wichtig ist es Dir, Deine Geschichte Freunden zu erzählen, damit Sie nicht in Vergessenheit gerät?
Vor gut 2 Jahren hatte ich die Chance, einem jungen Österreicher aus der Startup-Szene auf einer kleinen Sightseeing-Tour Stationen meines Lebens vorzustellen. Dazu gehörte der Tränenpalast hinter der EY-Zentrale und der Axel Springer Verlag in Kreuzberg, hinter dem der DDR-Todesstreifen Menschen jeden Tag das Leben kostete. Diese und weitere Stationen, wie das Rathaus Schöneberg, sind mir wichtig und keine Touri-Nummer.
Hat ihm die Reise etwas gebracht, oder war es vergebene Liebesmüh’ für einen selfiverliebten “Millenial”?
Damals wusste der junge Online-Marketer wohl noch nicht, ob er in Berlin bleiben wollte. Irgendwann habe ich ein Instagram-Foto von ihm und seiner Schwester an der Eastside-Gallery gesehen. Nach mehr als drei Jahren ist er – glaube ich – in Berlin angekommen und hat ein Gefühl für diese Stadt bekommen. Einer Stadt mit jeder Menge Chancen für einen 26-Jährigen – möglich geworden durch die deutsche Einheit.
Wie siehst Du Deutschland heute – 25 Jahre nach der Wiedervereinigung – und besonders Berlin?
Auch heute ist der Unterschied zwischen Ost und West in Berlin spürbar. Unabhängig von Bayern und Schwaben im Prenzelberger “Brutgebiet” sind die Berliner im Ostteil der Stadt deutlich traditioneller auf Familie eingestellt. Hier gibt es nach wie vor ein großes Gemeinschaftsgefühl und echte Hilfe, wenn sie gefragt ist. Das ist für Expats in ihrer “Hood” schwer nachvollziehbar, da sie meist abgeschottet bleiben, was schade ist.
Sind die “blühenden Landschaften” von Helmut Kohl Realität geworden und was trennt Deutschland bis heute?
Vor wenigen Jahren war ich in meiner Geburtsstadt Waren/Müritz in Mecklenburg. Hier sind die Fördermittel aus dem Aufbau Ost in die Infrastruktur gegangen – anders als in Teilen Brandenburgs. Infrastruktur ist Voraussetzung für “blühende Landschaften” – z. B. für den Tourismus in meiner Heimat. Was absolut kritisch ist, ist der Rechtsextremismus in Mecklenburg und in anderen Teilen Ostdeutschlands. Das sehe ich als eine echte Gefahr für Deutschland.
Vielen Dank für Deine große Offenheit!
Das Interview führte Christine Arnoldt.
Weitere Informationen:
Der Bahnhof Friedrichstraße
https://www.rbb-online.de/geheimnisvolle_orte/archiv/bahnhof-friedrichstrasse.html
Grenzerfahrungen im Tränenpalast:
http://www.hdg.de/berlin/traenenpalast/historischer-ort/
Der Tränenpalast im Film:
https://youtu.be/86gaQdI2fKo
Der Tränenpalast in Bildern:
http://www.elephantinberlin.com/2013/02/inside-palace-of-tears-tranenpalast.html
Mobile App Tränenpalast:
http://www.hdg.de/berlin/apps/app-traenenpalast/