StartEvents & TermineJede Form der Diskriminierung beruht auf einem falschen Narrativ

Jede Form der Diskriminierung beruht auf einem falschen Narrativ

In ihrem Buch „Wie wir uns Rassismus beibringen“ zeigt die Journalistin Gilda Sahebi, wie wir spaltende Narrative aufnehmen und weitertragen. Wir gefährden damit nicht nur unser friedliches Zusammenleben, sondern auch unsere demokratischen Werte.

„Erst wenn du eine Erzählung erkannt und als falsch entlarvt hast, haben Fakten eine Chance.“

herCAREER: Warum reagieren die Deutschen oft so allergisch auf das Wort Rassismus?

Gilda Sahebi: Ich glaube, wir wollen keine Schatten haben. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ich glaube, wir wollen gute Menschen sein und weisen alles „Schlechte“ von uns. Aber natürlich können alle Menschen egoistisch, gemein oder sogar grausam handeln. Wir müssen nicht so tun, als hätten wir keine dunklen Seiten in uns. Zudem ist Rassismus in Deutschland aufgrund der Geschichte extrem emotional besetzt.

herCAREER: Ist es da nicht verständlich, dass Menschen sich davon abgrenzen wollen?

Das Problem ist: Wenn wir so tun, als ob wir nicht in der Lage wären, rassistisch zu denken oder zu handeln, machen wir es uns allen schwerer, uns damit auseinanderzusetzen und daran zu arbeiten.

herCAREER: Eine Haltung, die wir auch aus dem feministischen Diskurs kennen. Männer und auch weiße Frauen blocken sehr schnell ab, wenn sie auf ihre Privilegien hingewiesen werden. Ist das vergleichbar?

Gilda Sahebi: Auf jeden Fall. Sobald in der deutschen Frauenbewegung über Rassismus gesprochen wird, passiert das Gleiche. Sie wirft anderen diskriminierendes Verhalten vor, ist aber selbst diskriminierend. Wenn man als Person und als Gesellschaft nicht lernt, dass es richtig, gut und stark ist, seine dunklen Seiten zu sehen, dann bleiben sie immer da.

herCAREER: Jede Person, die schon einmal Therapie gemacht hat, weiß, dass Selbstreflexion die härteste aller Übungen ist. Warum ist es so schwer, unsere Mechanismen zu hinterfragen?

Vielleicht weil es nicht ohne Schmerz geht? Ich weiß, dass mich mein eigener Weg an meine Grenzen gebracht hat, aber ich bin so froh, dass ich ihn gegangen bin. Man schaut tief in seinen Schmerz hinein, das tut extrem weh – und erst danach wird es richtig gut. Erst dann kann man wirklich frei leben, glaube ich.

herCAREER: Eine der zentralen Aussagen deines Buches ist, dass Deutschland immer – auch seit der Reichsgründung 1871 – ein Einwanderungsland war, wir uns aber bis heute einreden, das sei nicht so. Warum, glaubst du, können wir nicht anerkennen, dass Deutschland eine pluralistische Vergangenheit und Zukunft hat?

Weil es uns immer anders erzählt wurde. Die historische Meistererzählung, die ich in meinem Buch beschreibe, ist die von Westbindung, Wirtschaftswunder und 68ern. Die Erzählung über Migration dagegen wird entweder ignoriert oder ist weitgehend eine von Kriminalität. Dabei gibt es natürlich viel mehr positive Begegnungen als negative. Aber diese Begegnungen werden nicht erzählt. So verschwinden sie für das allgemeine Bewusstsein, für das historische Gedächtnis.

herCAREER: „Wir sind so – die anderen sind anders.“ Diese Abgrenzung nennt man auf Neudeutsch „Othering“. Wie wirkt sich diese Haltung auf das Zusammenleben aus?

Gilda Sahebi: Abgrenzung ist und war immer ein Herrschaftsinstrument. Weil man durch Spaltung Macht über andere ausüben kann. Das haben schon die alten Römer so gemacht, das haben die USA so gemacht, das machen wir so, damals und heute. „Die nehmen uns die Zahnarzttermine weg. Sie nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Die vergewaltigen unsere Frauen.“ Keine dieser Geschichten ist wahr, weil solche Verallgemeinerungen nicht der Realität entsprechen. Aber sie funktionieren als einfache Erzählungen ausgesprochen gut.

herCAREER: Du hast in einem Vortrag gesagt: „Was Menschen verbindet, ist größer als das, was sie trennt. Aber wir glauben den Geschichten, die uns versichern, dass Trennung uns Sicherheit bringt.“ Kann man unsere rassistischen Narrative damit erklären, dass die Menschen einfach Angst haben?

Ich glaube nicht, dass rassistisches Denken dem Gehirn eigen ist. Es wird gelernt. Ich glaube, das Gehirn nimmt das auf, was ihm vorrangig gegeben wird. Das Narrativ der Spaltung ist überall: Wir unterscheiden nach Geschlecht, nach sexueller Identität und Orientierung, nach Herkunft. Nehmen wir das Bürgergeld: Der Diskurs dreht sich um die Fleißigen und die Faulen. Was heißt denn das? Ist die Frau, die ihre kranken Angehörigen pflegt und deshalb nicht erwerbstätig ist, faul? Diese Sachverhalte sind komplex, werden aber im politischen Diskurs weder freiwillig erklärt noch öffentlich hinterfragt. So werden Arbeitslose automatisch zu „Faulen“, aber niemand spricht mehr darüber, warum diese Menschen keine Arbeit finden, über die strukturellen Faktoren – die sich im Übrigen verbessern ließen.

herCAREER: Dabei sind wir offensichtlich in der Lage, zu differenzieren. Wir tun das ständig, indem wir französische, italienische oder schwedische Ausländer*innen mit ganz anderen Augen sehen als etwa Flüchtlinge aus der Ukraine, die wir wiederum von denen aus Syrien oder Afghanistan abgrenzen. Wie lässt sich das erklären?

Solche Klassifizierungen gab es schon im deutschen Kaiserreich. Da wurden farbige Karten verteilt: Polen bekam rote Karten, die Niederlande blaue und so weiter. Es gab Zeiten, da waren die Italiener*innen und die Spanier*innen die Bösen, später warf man portugiesischen Einwanderern vor, dass sie deutsche Frauen sexualisierten. Im Moment leben wir in einer Welt, die sehr antimuslimisch ist.

herCAREER: Selektive Wahrnehmung also?

Gilda Sahebi: Der Mensch hat immer noch sein Steinzeitgehirn, das alles Negative anzieht wie Klett und alles Positive abstößt wie Teflon. Früher war das überlebenswichtig – für unser heutiges Zusammenleben müssen wir uns das abtrainieren. Wenn uns Politik, Medien und Umfeld ständig erzählen, dass vom afghanischen Mann eine Gefahr ausgeht, dann glauben wir das auch. Meistens unbewusst.

herCAREER: Heißt das, dass jede Form von Diskriminierung auf einem falschen Narrativ beruht?

Ja, und das kennen wir alle – besonders Frauen*: Wir sind nicht schön genug, nicht klug genug. Wir müssen Leistung bringen, um geliebt zu werden. Und wir wissen auch: Dieses Narrativ ändert sich nicht dadurch, dass jemand mir sagt: „Du bist aber schön“ und „du bist aber klug“. Diese Erzählung ändert sich nur, wenn man sie selbst in Frage stellt.

herCAREER: Die Deutschen gehören erwiesenermaßen zu den reisefreudigsten Völkern der Welt. Sie besuchen regelmäßig fremde Kulturen. Warum heißen wir sie dann nicht bei uns willkommen?

Weil wir glauben – weil es uns vermittelt wird –, dass sie uns etwas wegnehmen. Und diese Angst, etwas zu verlieren, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden – das ist so stark. Das kennen wir alle, am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis.

herCAREER: Wie beurteilst du den Fokus auf DE&I-Maßnahmen in Unternehmen? Unternehmen wie auch Start-ups vermitteln ein harmonisches Multikulti. Aber Menschen geben ihre sexistischen, rassistischen oder ableistischen Vorurteile nicht einfach am Empfang ab, oder?

Gilda Sahebi: Ich bin absolut gegen diese Form von erzwungener Vielfalt, weil sie für mich nur Dekoration ist. Dieses Narrativ ist unehrlich und gefährlich. Denn wenn das Selbstbild einer Person feministisch, inklusiv oder linksliberal ist, dann hinterfragt sie sich nicht mehr wirklich. Dann fällt es leicht zu sagen: Ich kann eine Frau gar nicht schlecht behandeln, schließlich bin ich Feminist*in! Und das ist eine sehr, sehr giftige Mischung.

herCAREER: Was wäre eine ehrlichere Haltung in Unternehmen?

Zu sagen: Wir sind nicht diskriminierungsfrei. Das können wir nicht sein. Aber wir überprüfen unsere Gehaltsstrukturen und den Anteil von Frauen* in Führungspositionen. Wir hinterfragen unsere Strukturen und Abläufe. Und wir haben Antirassismusbeauftragte und Ansprechpersonen für Diskriminierungen oder Konflikte aller Art.

herCAREER: Was wären neue Narrative für die Zukunft? Was wünschst du dir?

Ich wünsche mir Ehrlichkeit. Solange Politiker*innen sich selbst und uns etwas vormachen und so tun, als hätten wir kein Problem mit sexualisierter Gewalt, mit Rassismus, Ableismus und dergleichen, wird sich nichts ändern. Ich wünsche mir, dass Journalist*innen diese Dinge beobachten und darüber sprechen. Auch in der Bildung sollten wir früh mit ehrlichen Gesprächen anfangen, die auch erklären, dass eine schlechte Tat oder schlechte Gedanken noch keinen schlechten Menschen machen.

herCAREER: Medien spielen eine große Rolle als Multiplikatoren. Eine Chefredakteurin hat mir neulich gesagt, dass die Zukunft des Journalismus zu einem großen Teil im Faktencheck liegen wird: Aussagen überprüfen, Dinge richtigstellen, Deepfakes identifizieren …

Das ist ein schreckliches Zeugnis für das, was bei uns passiert. Aber Faktencheck allein ist nicht die Lösung. Wenn Fakten ausreichen würden, wäre Donald Trump nicht in der Lage, eine zweite Präsidentschaft anzustreben. Erzählungen schlagen Fakten: Wenn dein Narrativ „Ich bin nicht gut genug“ ist, dann kannst du 50-mal eine 1 in Mathe schreiben – du wirst trotzdem nicht glauben, dass du gut bist.

herCAREER: Aber wie kann ich so einem Narrativ entgegentreten?

Du musst es erst einmal als falsche Erzählung erkennen. The first step is knowledge. Erst wenn du die Erzählung erkannt und als falsch entlarvt hast, haben Fakten eine Chance.

herCAREER: Müssen Journalist*innen es also schaffen, völlig neutral zu sein?

Nein, bitte nicht neutral! Ich habe auch kein neutrales Buch geschrieben – es vertritt ganz klare Werte. Aber ich möchte, dass die Leserinnen und Leser selbst entscheiden, was sie von meinem Buch halten. Ich will sie nicht manipulieren. Wenn Politiker*innen sagen: „Das ist unerhört!“ oder von „den Faulen“ sprechen, dann ist das wertend und manipulativ, und genau das müssen Medien klar benennen.

herCAREER: Was wünschst du dir für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass mehr Menschen verstehen, wie unglaublich toll es ist, an sich selbst zu arbeiten – und nicht an anderen.

Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

Bild: Gilda Sahebi Autorin und freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft © Hannes Leitlein

Quelle mess.rocks GmbH

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