Wir müssen erkennen, dass Armut kein individuelles Schicksal ist, sondern ein systemisches Problem
Armut hat viele Gesichter und Ursachen, aber in den seltensten Fällen ist sie selbst verschuldet, weiß Sirkka Jendis, Geschäftsführerin der Tafel Deutschland. Im Gegenteil: „Armut hat System“, sagt die Autorin des gleichnamigen Buches. Es ist ein Gespräch über Vorurteile gegenüber Armutsbetroffenen und über Fehler im System – und ein Plädoyer für ein neues Menschenbild.
„Armut ist viel mehr als der Mangel an Geld und Lebensmitteln. Sie bedeutet auch einen Mangel an Chancen und gesellschaftlicher Teilhabe.“
herCAREER: Sirkka Jendis, was sind die häufigsten Mythen und Annahmen über Armut in Deutschland?
Sirkka Jendis: Eine Annahme, die ich oft höre, ist: „Hier muss doch niemand hungern“. Und das stimmt natürlich im globalen Vergleich – Armut und Hunger sehen zum Beispiel in afrikanischen Ländern ganz anders aus. Aber es ist wichtig – und das hat auch die Europäische Union so formuliert –, dass Armut in dem Kontext definiert wird, in dem Menschen leben. Wenn hier am Ende des Monats der Kühlschrank leer ist und man zur Tafel gehen muss, dann sprechen wir von existenziellen Sorgen. Darüber hinaus lässt sich Armut nicht auf Geld reduzieren.
herCAREER: Sondern?
Armut ist viel mehr als der Mangel an Geld und Lebensmitteln. Sie bedeutet auch einen Mangel an Chancen und gesellschaftlicher Teilhabe.
herCAREER: Welche weiteren Vorurteile gibt es?
Eines, das immer wieder zu hören ist, ist das Narrativ von der selbstverschuldeten Armut. Dem versuche ich mit meinem Buch entgegenzuwirken. Schon der Titel „Armut hat System“ sagt es: Wenn sich Leistung bei uns immer lohnen würde, wären nicht ganze Bevölkerungsgruppen häufiger von Armut betroffen oder armutsgefährdet. Die beste Versicherung gegen Armut ist immer noch, in eine vermögende Familie hineingeboren zu werden.
herCAREER: In deinem Buch gehst du näher auf die Lebensrealität dieser besonders von Armut betroffenen Bevölkerungsgruppen ein. Wie wirkt sich Armut zum Beispiel auf das Leben von Kindern aus?
Mir ist es wichtig, immer wieder zu betonen: Es gibt eigentlich keine armen Kinder. Es gibt nur Kinder von armutsbetroffenen Erwachsenen. Politiker:innen sind sich immer sehr einig, dass wir die Kinder unterstützen müssen – aber um Kinder zu unterstützen, müssen wir die Eltern unterstützen. Und obwohl sich auch hier hartnäckige Mythen halten, zeigen Studien, dass arme Eltern ebenso das Beste für ihre Kinder wollen wie wohlhabendere Menschen. Nur haben arme Kinder von allem weniger.
herCAREER: Wovon, zum Beispiel?
Beengte Wohnverhältnisse, wenig Ruhe für die Hausaufgaben, keine Ressourcen für die Teilnahme am Vereinsleben. Weniger Bewegung, ungesündere Ernährung, vielleicht wird zu Hause nicht Deutsch gesprochen – all das kann sich auf die schulischen Leistungen und die Psyche auswirken. Diese Kinder lernen früh, dass sie nicht die gleichen Chancen haben wie andere Kinder.
herCAREER: Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen, das wissen wir. Aber wie sieht es bei Frauen im erwerbsfähigen Alter aus?
Frauen sind in allen Armutsgruppen überrepräsentiert – bei Senior:innen, Migrant:innen, Arbeitslosen. Das ist ein Ergebnis, das ich für sehr besorgniserregend halte und ein Zeichen dafür, dass wir in Sachen Chancengerechtigkeit noch viel Arbeit vor uns haben. Alle Probleme, die durch mangelnde Gleichberechtigung in Deutschland entstehen oder bestehen, potenzieren sich bei Menschen, die von Armut betroffen sind.
herCAREER: Viele Menschen können von ihrer Rente nicht leben. Wie sieht Altersarmut aus?
Senior:innen sind eine der Gruppen, in denen wir bei den Tafeln Zuwächse feststellen. Es kommen Senior:innen zur Tafel, die ihr Leben lang gearbeitet haben, sei es in Form von Erwerbsarbeit oder unbezahlter Sorge- und Pflegearbeit, und bei denen jetzt die Rente nicht ausreicht. Zudem gehen Alter und besonders Altersarmut mit zunehmenden körperlichen Einschränkungen und nachlassender Gesundheit einher. Vertraute Menschen verlassen einen, die Einsamkeit wächst und mit ihr das Gefühl, in einer Leistungsgesellschaft keinen Beitrag mehr stiften zu können. Wenn man dann noch im letzten Lebensdrittel jeden Cent zweimal umdrehen muss, ist das kein Altern in Würde. Das kann nicht der Anspruch eines reichen Landes wie Deutschland sein.
herCAREER: In einem Gespräch mit der Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, habe ich gelernt: Armut macht krank und Krankheit macht arm. Wie kommt das?
Wer schwer oder chronisch krank ist, hat verständlicherweise Schwierigkeiten, Geld zu verdienen. Umgekehrt erkranken arme Menschen häufiger an Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das liegt unter anderem an Stress und ungesunder Ernährung, am Leben in beengten Wohnverhältnissen in Gegenden mit mehr Lärm und Feinstaubbelastung. Arme Menschen haben dazu weniger Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen.
herCAREER: Ist davon auszugehen, dass Menschen in Armut auch psychisch stark belastet sind?
Um psychisch gesund zu bleiben, brauchen Menschen Chancen, Gesellschaft und soziale Teilhabe. Armutsbetroffene Menschen dagegen haben mit Scham und Stigmatisierung zu kämpfen. Viele von ihnen leiden unter enormen psychischen Belastungen. Ein Grund mehr, schon aus volkswirtschaftlicher Sicht dafür zu sorgen, dass weniger Menschen von Armut betroffen sind. Denn das zahlt sich für den Staat auf vielen Ebenen finanziell aus.
herCAREER: Menschen, die Bürgergeld oder Sozialhilfe beziehen, werden im öffentlichen Diskurs oft heftig kritisiert. Ist diese Kritik berechtigt?
Unser Arbeitsminister Hubertus Heil sagt immer: „Der wichtigste Schutz vor Armut ist Arbeit“. Aber ich möchte hinzufügen: Arbeit, von der man auch leben kann! Und wenn die FDP dafür plädiert, Überstunden steuerfrei zu machen, „weil sich Leistung wieder lohnen soll“, dann grenzt sie Menschen strukturell aus. Eine alleinerziehende Mutter kann keine bezahlten Überstunden machen. Und wer im Niedriglohnsektor arbeitet, verdient zu wenig. Viele kommen zur Tafel, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Leistung lohnt sich eben nicht für alle.
herCAREER: An welchen Stellschrauben muss deiner Meinung nach gedreht werden?
Ein großes Thema ist der Bürokratieabbau. Ich wünsche mir Politiker:innen, die eine Vision für Bildung, Arbeit und Infrastruktur haben. Alles hängt zusammen: Wenn der öffentliche Verkehr nicht ausgebaut wird, ist es für Armutsbetroffene schwieriger, zur Arbeit zu kommen. Ohne flächendeckende Kinderbetreuung können Mütter weder in Teilzeit noch Vollzeit arbeiten. Wenn wir keine Rahmenbedingungen schaffen, damit Abschlüsse zugewanderter Fachkräfte anerkannt werden, bleiben viele qualifizierte Arbeitskräfte arbeitslos. Je mehr wir Menschen befähigen, für sich selbst zu sorgen, desto weniger Ausgaben hat der Staat. Ich wünsche mir Visionen seitens der Politik, aus denen Menschen Hoffnung schöpfen können.
herCAREER: Also eher eine Frage des Wollens als des Könnens?
Deutschland ist im Dezember vom Europarat gerügt worden, weil es hier eine soziale Ungleichheit gibt, die in keinem Verhältnis zu diesem reichen Land steht. Deutschland hat eine sehr ungleiche Vermögensverteilung. Außerdem wird der Zugang zu Bildung und Chancen überproportional vom Elternhaus bestimmt. Das muss sich ändern! Wir versäumen es, Menschen zu fördern, die so viel für unser Land tun könnten. Ich habe es schon einmal gesagt: Die beste Versicherung gegen Armut ist, mit Vermögen ins Leben zu starten. Aber
herCAREER: Armut hat viele Gesichter, das macht dein Buch deutlich. In der Begegnung mit anderen Menschen kann sie Unbehagen und Ablehnung hervorrufen. Was kann ich als Einzelner tun, um meine Haltung bewusst zu verändern?
Ich glaube, das fängt bei unserem Menschenbild an. Mit meinem Buch lade ich dazu ein, die eigenen Annahmen über Armut und die eigenen Privilegien zu hinterfragen. Zu erkennen, dass Armut kein individuelles Schicksal ist, sondern ein systemisches Problem. Zu verstehen, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht faul sind, sondern im Gegenteil sehr, sehr hart arbeiten, um ihren Alltag zu bewältigen.
Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.
Über die Person
Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, dem Dachverband von über 970 Tafeln in Deutschland. Zuvor war die studierte Kommunikationswissenschaftlerin Vorständin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Dozentin und in leitender Funktion in der ZEIT-Verlagsgruppe tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.
Auf der herCAREER Expo spricht Sirkka Jendis beim Podcast-MeetUp am 17. Oktober 2024 mit der Journalistin und herCAREER-Redakteurin Kristina Appel über ihre Arbeit und ihr Buch „Armut hat System“. Ort und Zeitpunkt finden Sie im Programm.
Bild Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, dem Dachverband von über 970 Tafeln in Deutschland
Quelle messe.rocks GmbH