Ethik und Kunst stehen im Kontext der digitalen Gesellschaft einer rasanten technologischen Evolution gegenüber. Sich in diesem vibrierenden Denkfeld zu orientieren und über gute oder problematische Entwicklungen nachzudenken, setzt ein Innehalten voraus, das gegeben der beschleunigten Innovationsprozesse mit viel Stemmkraft verbunden ist. Spannend ist etwa die Frage, wie sich unser Selbst- und Weltbild im Kontext der technologischen Evolution und Innovation verändert. Kunst und Ethik nähern sich dieser Frage von unterschiedlichen Seiten an. Beide haben über ihre gesellschaftliche Funktion auch eine psychologische. Sie rütteln auf und bieten Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Gegenwart an.
Womit beschäftigt sich die Ethik der digitalen Gesellschaft?
Die Ethik der digitalen Gesellschaft analysiert gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Auswirkungen digitaler Technologien und Geschäftsmodelle normativ. Diese Analyse orientiert sich an moralischen Prinzipien und behandelt spezifische ethische Konflikte mit dem Ziel, Empfehlungen und Standards zu entwickeln. Dazu gehören grundsätzliche Ausgangsfragen: Was verstehen wir in der digitalen Gesellschaft unter einem guten Leben? Wie definieren wir Selbstbestimmung, wenn uns technologische Assistentierende zunehmend Entscheidungen abnehmen? Inwiefern bleibt der einzelne verantwortlich für eine Handlung, die im Kontext automatisierter Prozesse getätigt wird? – Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich, je nachdem, welche Grundwerte für uns prioritär sind.
Inwiefern?
Eine Ethik, die den Menschen auf transhumanistische Weise auf Information reduziert, versteht ihn als homo optimus, als ein Mängelwesen, dass durch Technologie verbessert werden muss. Eine humanistische Ethik anerkennt den Menschen als immer auch unergründliches, mitunter irrationales Wesen, das verwundbar und individuell ist. Sie zielt auf den Schutz der Menschenwürde und gewichtet Aspekte wie Bezogenheit, Sinnsuche oder Kreativität höher als Perfektion und messbare Vergleichbarkeit.
Welche Kompetenzen braucht es für Digitale Ethik?
Ethik der digitalen Gesellschaft erfordert ethische und digitale Kompetenzen. Ethische Kompetenz erfordert ein moralisches Empfinden und die Motivation, reflektiert und moralisch verantwortlich zu argumentieren und handeln, um das größere Wohl der Gesellschaft anzustreben. Digitale Kompetenz erfordert ausreichende Kenntnisse über die Technologien, ihre Anwendung und Funktionsweise. Aufgrund der immensen Komplexität digitaler Technologien ist das Streben nach digitaler Kompetenz für Ethiker*innen eine grosse Herausforderung. Ein Mangel an digitaler Kompetenz kann zu unqualifizierten und zu allgemeinen Aussagen führen.
Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich in der digitalen Gesellschaft?
Da die technologische Evolution immer schneller ist als unser normatives Verständnis davon, hinkt die ethische Beurteilung oft der Implementierung von Technologien hinterher. – Eine vergleichbare Schwierigkeit trifft auch auf zeitgenössische Kunstschaffenden zu, die versuchen, z. B. algorithmische Mechanismen hinter ihren Darstellungen zu verstehen und zwischen technologischem Funktionalismus, Möglichkeiten und ihrer eigenen kreativen Interpretation zu navigieren.
Der ChatGPT ist ein gutes Beispiel für das Phänomen der ethischen Nachregulierung. Die Technologie wird fortwährend weiterentwickelt, während wir versuchen abzuwägen, welche normativen Konsequenzen absehbar und welche Forderungen – etwa nach Moratorien – angezeigt wären. Das menschliche Denken und Erkenntnisvermögen ist nicht gleichermassen schnell, wie dasjenige des ChatGBT. Die mathematische Rationalität der selbstlernenden Künstlichen Intelligenz steht einer vielschichtigen menschlichen Intelligenz und Entscheidfindung gegenüber, die immer auch durch irrationale, affektive und zwischenleibliche Aspekte mitbeeinflusst wird. In diesem Spannungsfeld zwischen technologischer Machbarkeit und dem Anspruch, Entwicklungen im Interesse von Menschen und Gesellschaft zu steuern, stellt sich die Frage nach einer normativen Orientierung.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass sich unser Verhältnis zu Verbindung und Trennung gewandelt hat. In der digitalen Gesellschaft haben sich die Dunstkreise der Beziehungen verändert. Digitale Technologien erlauben es uns, uns anders zu verbinden, geografische Distanzen zu überwinden und gleichgesinnte Gemeinschaften in der ganzen Welt zu finden. Sie ermöglichen uns aber auch, uns willkürlicher zu trennen und so Beziehungskonflikten zu entkommen, indem wir bspw. den Kommunikationskanal wechseln. Die Flexibilität von Verbindung und Trennung kann mit einer verstärkten politischen Polarisierung und manchmal einer Entmenschlichung oder Detachierung einhergehen.
Welche Herausforderungen stellen sich an das Kunstverständnis und die Kunstschaffenden?
Die technologischen Errungenschaften verändern wesentlich auch die Möglichkeiten und das Verständnis von Kunst. Wir müssen uns der Frage stellen, ob künstliche Intelligenz kreativer ist als der Mensch. Über die rechtlichen Fragen zu den Urheberrechten hinaus stellt sich weitreichender die Frage nach der Identität der Kunstschaffenden. Wird der Kunstschaffende zum Techniker, der die «kreative» Macht der Maschine bändigen kann? Wird der Kunstschaffende zur Kuratorin, die versucht, sinnhafte Darstellungen zu finden und kritisch anzustossen oder die technologische Überlegenheit möglichst faszinierend und unterhaltsam zu präsentieren? So heterogen wie die Kunst selbst werden hier die Antworten ausfallen. Auf alle Fälle scheint es wichtig, dass die Fragen gestellt werden.
Welchen Beitrag kann digitale Kunst bei der Auseinandersetzung mit aktuellen philosophischen Fragen leisten?
Die Spannung zwischen Verbindung und Trennung ist gerade auch für digitale Kunst von entscheidender Bedeutung. Algorithmische Ordnung basiert auf der Auswahl, Betonung und Neuanordnung von Informationen gemäß einem anfänglichen Befehl. Die Kunstschaffenden müssen ein Verhältnis zu diesem Befehl finden: Was ist im Prozess ihr Eigenes, woran lässt es sich erkennen oder wie kennzeichnen? Wenn sie mit der derzeit effizientesten Recyclingmaschine für Information, dem ChatGPT zusammenarbeiten, scheint mir das ein sehr ambivalentes Verhältnis. Es darzustellen, birgt meines Erachtens enormes Erkenntnispotential, auch aus ethischer Sicht. Allein der ChatGPT ist für uns zu einem Symbol geworden, dass nahezu Gottesprojektionen weckt – ein attraktives Phänomen für die künstlerische Auseinandersetzung. Gleichzeitig konkurrenzieren die Technologien in gewisser Weise mit den Kunstschaffenden. Und doch kann der ChatGPT vieles nicht, was Kunstschaffende auszeichnet: Er kennt keine menschliche Empathie, ist kein leiblich, geistig, emotional spirituelles Wesen, sucht auch nicht nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.
Was unterscheidet Kunst ihrer Meinung nach von Technologie?
Man könnte sagen, dass mit dieser Frage die Philosophiegeschichte begann. – Im altgriechischen Begriff der techne flossen Kunst und Technik ineinander über. Platon und Aristoteles haben allerdings bereits darauf insistiert, dass ein qualitativer Unterschied zwischen dem blossen Erfahrungswissen, den Fertigkeiten besteht, und einer Tätigkeit, die in wahrer Erkenntnis gründet. Dies aber nur als Randbemerkung. Ausgehend von einem klassischen Verständnis von Kunst und dem Kunsterlebnis des Beobachtenden erzielt Kunst eine Wirkung. Dafür vorausgesetzt ist, dass sie die Kunstbetrachtenden erreicht – nicht nur kognitiv, sondern auf eine tiefere, affektive Weise. Kants Idee des Erhabenen bei der Erfahrung der Schönheit der Natur ist ein historischer Ausdruck dieses mittlerweile veralteten Kunstverständnisses. Technologie ist demgegenüber durch ihre evidenzbasierte Funktionalität gekennzeichnet. Ich denke, dass wir in unserer Zeit dieser Frage nach dem Unterschied von Kunst und Technik nochmals in Ruhe nachdenken sollten.
Welches Kunstverständnis wäre denkbar?
Haben wir je ein objektives Verständnis von Kunst erreicht? Mir scheint das Kunstverständnis immer auch etwas Subjektives zu bleiben. Als gemeinsamer Nenner einer Definition würde ich vermuten, dass Kunst ein befreiendes Potential hat. Sie weckt Interesse, regt zur Auseinandersetzung mit dem an, was wir nicht verstehen, spielt mit Grenzen und drängt uns in die Richtung von existentiellen Erkenntnisfragen. Meines Erachtens gehört zur Kunst, dass sie uns innerpsychisch erreicht. Sie kann dafür provozierend, verblüffend oder harmonisch sein, analog oder virtuell.
Jenseits von technischen und rechtlichen Fragen stehen die Kunstschaffenden vor der Herausforderung, kreative Wege zu finden, die technologischen Möglichkeiten zu nutzen und sie gleichzeitig nicht zu überschätzen. Die Kunstschaffenden und ihre Ansprüche legen die Vorlage für das zeitgenössische Kunstverständnis und seine Kritik. An diesem Punkt überschneiden sich philosophische Reflexion und Kreativität der Kunstschaffenden
Anita Horn, PhD, ist Politische Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie ist Dozentin für Ethik der digitalen Gesellschaft an der Universität St. Gallen.
Bild:Anita Horn
Quelle:Sarah Montani Editions W.